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27. Juni 2018 / Vertrauen und Träume (II)

Träume zum Anfassen

Bildung, ein Beruf, Glück in der Liebe – die Lebensträume von Lütfeye Ay-Arslan klingen ganz normal. Doch ist es normal, wenn man ein Farberkennungsgerät braucht um herauszufinden, welche Farbe der Pullover hat, den man trägt? Heute ist es der dunkelrote, tönt das Gerät mit roboterhafter Stimme. Im Gespräch gestikuliert sie lebhaft, verleiht jedem Satz mit einem Lächeln oder Stirnrunzeln Nachdruck. Und säße nicht die pechschwarze Sonnenbrille auf ihrer Nase, würde man nicht vermuten, dass sie blind ist – von Geburt an.

Lütfeye wird 1964 in einem kleinen Dorf in der Türkei geboren. Anfangs kann sie noch starke Kontraste und Grundfarben erkennen, die Sonne und den Mond – aber die Sterne sind schon zu weit entfernt. In der Dorfschule ist für sie kein Platz, auf Schüler mit besonderen Bedürfnissen ist niemand eingerichtet. Während die Kinder in Lütfeyes Alter Lesen und Schreiben lernen, macht sie Bekanntschaft mit ihrem ersten Freund: Einem Radio, dem das Mädchen nun Tag und Nacht zuhört. Sie steht auf und legt sich schlafen, wann sie will, erfährt die Welt als Stimmen aus dem Lautsprecher. Einen Schlafrhythmus hat sie nicht; Schlafstörungen werden sie später den Rest ihres Lebens begleiten. Ihr Traum: Ein besseres Leben in Deutschland.

 

Zumindest diese Tagträume bleiben ihr. Nachts erlebt das Mädchen alltägliche Situationen, die sich von ihrem gewöhnlichen Leben kaum unterscheiden. Im Traum fühlt Lütfeye, wo sie ist, was sie tut und wer an ihrer Seite steht. Ohne Bilder im Gedächtnis bleiben auch ihre Träume in eine Dunkelheit gehüllt, in der nur das Tasten ihrer Finger der Orientierung dient. Einen Blindenstock hat Lütfeye nie benutzt; ihre Hände sind ihre Augen. In Albträumen erlebt sie wieder diese frühen Jahre, als blindes Mädchen mit nichts als einem Radio.

 

Wie ihr diese Jahre anlasten, lässt sich die resolute 53-jährige nicht anmerken, als sie nach dem Teekocher greift und starken türkischen Tee einschenkt – ein paar Tropfen davon sind genug, das restliche Glas muss mit heißem Wasser aufgefüllt werden. Wenn Lütfeye konzentriert zuhört oder nachdenkt, bebt ihre Oberlippe und gibt den Blick auf eine Reihe gepflegter Zähne frei.

 

Als Blinde ohne Schulbildung

1982 bringt die Familienzusammenführung Lütfeye und ihre Familie nach Deutschland. In einem türkisch dominierten Straßenzug in Bottrop streckt die 17-jährige ihre Hand nach sozialen Kontakten aus und knüpft erste Freundschaften. Über die nächsten neun Jahre erwächst in ihr der Traum, einen Beruf zu lernen. Dem kommt sie ein ganzes Stück näher, als sie 1991 an einer Hausaufgabengruppe türkischen Mädchenzentrums teilnimmt – als Blinde ohne Schulbildung. Eine Lehrerin fragt sie, ob sie das Wort „Woche“ buchstabieren kann. Lütfeye kann es; sie hat es aus dem Radio gelernt. Es kommt zu einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit: Ihre Lehrerin will Lütfeye Braille beibringen, beherrscht es aber selber nicht. Zweimal pro Woche sitzen die beiden zusammen und lernen gemeinsam Blindenschrift.

 

Für ihr Streben nach Bildung wird Lütfeye zuhause bald einen hohen Preis bezahlen, denn ihrem Vater ist das Treiben seiner Tochter ein Dorn im Auge. Statt Lesen und später auch noch Mathematik zu lernen, soll die junge Frau seiner Meinung nach zuhause sitzen und sich mit ihrem Schicksal abfinden. Für ihren Lebenstraum, unabhängig zu werden und ihr eigenes Leben zu führen, wird Lütfeye gesagt, sie soll zur Hölle fahren. Stattdessen fährt sie an eine Blindenschule in Düren, beginnt eine Ausbildung als Telefonistin. Sie geht aus ihrer Abschlussprüfung mit einer Note von 1,3 hervor. Gleichzeitig lernt die 31-Jährige ihren Freund und späteren Ehemann kennen. Er bringt in die Beziehung ein, dass er 16 Jahre lang sehen konnte, bevor ihm der Grüne Star das Augenlicht nahm. Lütfeye heiratet den Mann, dessen Gesicht sie nur ertasten kann und bereut die Entscheidung auch zwei Jahrzehnte später nicht. Ein weiterer Lebenstraum geht in Erfüllung. Nach nur drei Bewerbungen schafft es Lüfteye in ein Bewerbungsgespräch als Telefonistin. Sie bekommt die Stelle, zunächst befristet auf sechs Monate. Die Unabhängigkeit muss kein Traum mehr bleiben.

 

Trotzdem ziehen sich die Konflikte mit dem Vater wie ein roter Faden durch ihr Leben. Sie schlägt seine Warnungen in den Wind und vereinbart heimlich einen Besichtigungstermin für ein Apartment in Mülheim an der Ruhr – ein Stockwerk unter einer Arbeitskollegin und guten Freundin. Als ihre Eltern für zwei Wochen in den Urlaub fliegen, organisiert Lütfeye ihren Umzug und verlässt die elterliche Wohnung einen Tag vor deren Rückkehr. Als Ihr Vater Lütfeyes Zimmer leer vorfindet, gerät er derart in Rage, dass er den Kontakt zur Tochter abbricht. Ein Jahr lang kann sie nur dann mit ihrer Mutter telefonieren, wenn der Vater die Moschee besucht – was der strenggläubige Moslem fünf Mal täglich tut. Erst nach einem Jahr hat er sich soweit beruhigt, dass es zur Versöhnung kommt.

 

Aus der befristeten Stelle wird eine unbefristete, die Technologie entwickelt sich weiter und Lütfeye muss neben dem Telefonieren den Umgang mit Computern lernen. Ihrer Stelle bleibt sie über Jahrzehnte treu, redet täglich mit unbekannten Stimmen und merkt sich an jedem Arbeitstag zwei Telefonnummern, um das Gedächtnis fit zu halten. Wo sich ihre Arbeitskollegen am Aussehen orientieren, erkennt Lütfeye an der Stimme, wer ihr sympathisch ist.

 

Gewöhnliche Träume

Das ständige Radiohören ist aus Lütfeyes Routine verschwunden. Hörbücher haben es abgelöst; über 1.100 davon hat sie auf ihrem Computer. Im Schnitt hört sie pro Woche zwei davon. Wie viele sie schon angehört hat, daran kann sie sich beim besten Willen nicht erinnern. Und das trotz einem beachtlichen Gedächtnis: Im Gespräch greift sie auf fließendes Deutsch zurück, unterlegt von einem sanften türkischen Akzent.

 

Ein unerfüllter Traum ist ihr doch geblieben: Mit Augenlicht und früher Bildung hätte sie gerne Psychologie studiert. Bildung, Beruf, Unabhängigkeit und eine solide Partnerschaft – Lütfeye Ay-Arslans Träume sind gewöhnlich und doch so außergewöhnlich. Nach einem Leben, das dem Kampf um ihre Selbstständigkeit verschrieben war, träumt sie jetzt vor allem von einem: Das alles so bleiben soll, wie es ist.

 

 

* Dieses Porträt entstand während einer in Kooperation von der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen und WestLotto organisierten Projektwoche zum Thema „Träumen“. Die verantwortliche Projektgruppe setzte sich zusammen aus Katharina Böhmer, Vera Bose, Charmaine Fischer, Lisa Griesmann, Marc Hoffmann, Juliane Kozielski, Laura Möller, Melina Sander, David Siebert und Niklas Vogel